Familie & Ich
...eigentlich waren wir immer eine glückliche Familie...
Sicher ist es nicht einfach damit umzugehen, wenn man erfährt, dass der eigene Sohn, der Bruder, der Neffe oder Cousin ein kleines Mädchen missbraucht hat und dann auch noch seine eigene Schwester. Ganz sicher wüsste ich auch nicht, wie ich reagieren oder mich verhalten sollte, aber würde ich gar nichts tun? Ist das besser? Man ist nicht nur für das verantwortlich, was man tut sondern auch für das, was man nicht tut. Wir haben in meiner Familie eigentlich nie über Gefühle oder Probleme geredet und auch, als ich aus der Klinik entlassen wurde, schien Niemand wissen zu wollen, wie es mir geht oder was los war. Ich war in der Klinik, also müsse es mir doch jetzt wieder gut gehen, wenn ich entlassen wurde.
Ein paar Geschichten über meine Familie habe ich ja schon in meinem Lebenslauf erzählt, aber es ging ja noch weiter...
...Meine Tante aus Süd Afrika kam im Sommer 2006 nach Deutschland. Ich sehe sie nicht so oft. Alle 4 oder 5 Jahre kommt sie zu Besuch. Sie wurde 65 Jahre alt und wollte hier eine große Party machen. Ich freute mich, trotz allem. Und ich wollte auch auf jeden Fall zu ihrer Party, denn ich mag meine Tante sehr gerne und so ist sie doch die Einzige aus der Familie, die von all dem Theater der letzten Jahre nichts mitbekommen hat. Ich war unsicher und so wirklich hat mir nie Jemand gesagt, ob man mir glaubt oder überhaupt irgendetwas dazu gesagt. Aber wie gesagt, ich wollte trotzdem hin. Einen Tag vor der Feier, abends um 22Uhr bekam ich eine SMS, von meinem Bruder! Ich war total geschockt, konnte kaum das Handy festhalten. Ich hatte eine SMS von ihm auf meinem Handy. Er wollte auch gerne zu der Geburtstagsparty kommen und wollte mich nun fragen, ob es ok ist, wenn er kommt. Was bitte sollte ich darauf antworten? Sollte ich ihm etwa erlauben in meine Nähe zu kommen, mich selber verraten? Ich konnte überhaupt gar nichts schreiben. Am nächsten Morgen, so gegen 8Uhr rief mich meine Mutter auf der Arbeit an: "F. hat dir doch eine SMS geschrieben, warum antwortest du denn nicht? Er sitzt in W. auf gepackten Koffern und wartet auf eine Antwort!" Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte, ich war super enttäuscht, dass sie mich anrief und so unter Druck setzte. "Kannst du denn nicht so tun, als sei nichts gewesen?!" Wie bitte?! Und dann immer noch ihr Gejammer, dass die Familie auseinander bricht und dass sie so traurig darüber ist. Ich konnte nichts Anderes als zu sagen, dass er kommen kann. Aber zu allem Überfluss verlangte meine Mutter dann auch noch, dass ich ihm selber eine SMS schicke und sage, dass es ok ist. Ich versuchte ein gutes Kind zu sein, aber das war der endgültige Bruch mit meine Mutter.
Gut, nun wusste ich ja, dass er auch auf der Party sein wird, aber mit meinem Freund an meiner Seite fühlte ich mich sicher. Als wir ankamen war er schon da. Meine Mutter kam und meinte "Willst du nicht mal Hallo sagen?" Ich war gerade erst eine Minute da und schon hätte ich heulen können. Dann feierten alle. Es brach mir sehr das Herz zu sehen, dass alle mit ihm feierten und tanzten, obwohl sie wussten, was er gemacht hat. Sie wussten nicht genau was oder haben mich jemals irgendwas gefragt, aber sie wussten doch, dass er was gemacht hat und dass ich deswegen in einer Klinik war. Und sie tanzten mit ihm. Aber ich blieb tapfer.
Drei Monate später wurde mein Vater 60 Jahre alt und da fragte mich Niemand mehr, ob er kommen kann. Es waren alle da, die Nachbarn, langjährige Freunde meiner Eltern, die Verwandten. Es war eine große Party. Ich kam mit meinem Freund und einer Freundin. Und dann sah ich ihn. Und wieder musste ich schauspielern. Nach einer Weile kam meine Schwester und sagte, dass sie ein Gedicht für meinen Vater geschrieben hatte und wollte, dass wir alle vier Kinder nach vorne gehen und es vortragen. Ich dachte, sie will mich verarschen. Sie wollte jetzt allen Ernstes, dass ich mich mit ihm da Vorne hinstelle? Das ging zu weit, das konnte ich nicht. Ich sagte "Nein!" und meine Schwester motzte mich nur an "Ey, wo ist dein Problem?!" Ich war fertig, ging heimlich auf der Toilette weinen, aber mein Freund und meine Freundin merkten das natürlich und waren auch sehr sauer und enttäuscht. Sie stachelten sich gegenseitig auf und schubsten F. und seinen Freund wann sie nur konnten. Dann kam meine Mutter "Ich glaube, es ist besser, wenn ihr jetzt geht!" Das konnte und wollte ich mir echt nicht mehr gefallen lassen und so gingen wir. Auf dem Weg stand F. auf einmal draußen und mein Freund meinte "da vorne ist er!" und er und meine Freundin rannten los. Sie schuppsten ihn ins Gebüsch. Völlig enttäuscht und wütend überkam mich auf einmal die Kraft, auch hinzu rennen. Ich wollte ihm eine runter hauen, aber er war schon weg. Wir gingen ein paar Schritte und dann, dann wollte ich nicht aufgeben. Ich dachte, wenn ich jetzt gehe, habe ich meine Familie für immer verloren und er hat gewonnen. Wir gingen zurück. Vor der Tür mussten wir uns von allen anhören, dass wir die Party kaputt gemacht hätten und warum es ausgerechnet auf Papas 60sten Geburtstag sein musste. Was in mir los war, fragte Niemand. Ich schrie, weinte mir die Augen aus dem Kopf. Ich wollte doch einfach nur, dass man mir glaubt und zu mir steht. So viele Jahre hatte ich geschwiegen und sie alle beschützt, jetzt wollte ich endlich ausbrechen. Ich wollte, dass sie nicht mehr so tun können, als wenn nichts gewesen wäre. "Peinlich, was nun die Nachbarn und Freunde denken würden", musste ich mir später anhören und was die Party für ein Geld gekostet hat. Ich fühle mich immer noch so schuldig, dass ich es bis heute nicht schaffe, meinem Vater in die Augen zu sehen.
Sicher ist es für sie alle nicht einfach damit umzugehen, aber sie sind alle. Ich bin ganz allein. Wie soll ich denn damit umgehen? Ich brauche doch eine Familie, aber ist es das wert, dass ich mich dafür aufgebe? So lange es die kleine Katrin in mir gibt, werde ich nicht angenommen, wie ich bin. Ich wünschte mir ein wenig Unterstützung, Verständnis, Interesse. Das Internet ist voll mit Seiten von Initiativen gegen sexuellen Kindesmissbrauch, dort könnten sie sich anonym informieren, denn über die langjährigen Folgen scheinen sie sich nicht bewusst zu sein. Als ich fast ein Jahr krank geschrieben war, musste ich meine Wohnung kündigen, denn ich konnte sie nicht mehr bezahlen. Ein Jahr Krankengeld, das ist wirklich hart. Ich fragte meinen Vater, ob ich seinen Combi und den Anhänger haben könnte. Er meinte klar, aber dass er Geld bräuchte, um den Wagen zu tanken. Ich hatte kein Geld. "Na wenn du meinst, dass du so lange krank feiern musst, dann musst du dich auch nicht wundern!" Puh, also den Wagen konnte er sich echt in den Arsch schieben. Ich machte den Umzug mit meiner Freundin und ihrem Opel Corsa. Die großen Möbel lagerte ich einige Monate im Keller. Auch musste ich mir einen Kredit aufnehmen, um den Umzug, das Krankenhaus und andere Dinge zu bezahlen. Ich hatte auch viel versucht, mein Selbstwertgefühl mit Klamotten zu verbessern. Was außer Schulden natürlich nichts brachte. Mein anderer Bruder hat sehr viel Geld und ich fragte ihn, ob er mir bei einem Kredit hilft, da er sich damit auskennt. Ich wollte kein Geld geschenkt bekommen, wirklich nicht, aber ich hätte mir gewünscht, dass er mir das Geld leiht. Zinsfrei und nicht über eine Bank. Ich hätte ihm jeden Monat was abgezahlt. Er meinte nur "ich bin doch keine Bank". Niemand hat mich unterstützt. Als ob es meine Schuld wäre. 560€ musste ich für beide Krankenhausaufenthalte bezahlen. War es doch meine Schuld, dass ich da gelandet bin?
Ich hätte mir von meiner Familie einfach ein wenig Unterstützung gewünscht. Heute muss ich mir von meiner Mutter nur anhören, was bloß aus der Familie geworden ist und dass meine Schwester der einzige Mensch der Familie ist, von dem sie noch was hat. Also an dem sie Freude hat. Es kann doch nicht wahr sein, dass ich nicht einmal mit meinem Freund zum Kaffee komme. Ich meide das Haus indem die Dinge passiert sind so gut ich kann, ich will da nicht rein, kann man da nicht selber drauf kommen? Kann man sich denn nicht selber mal fragen, woran es liegt, dass ich so gut wie nie bei ihr anrufe? Um mir anzuhören, wie schlecht es F. in W. geht, dass er sich von seinem Freund getrennt hat...?! Um mir anzuhören, warum ich nur so bin, warum ich die Familie auseinander bringe? Soll ich dafür wirklich anrufen?
2011
Mittlerweile haben sich die Dinge etwas anders entwickelt. Es sind drei Jahre vergangen und wie erwähnt erwarte ich bald ein Baby. Ich will nicht sagen, dass ich das Verhalten meiner Familie hingenommen habe, aber ich habe keine Kraft mehr mich darüber aufzuregen und wichtigere Dinge im Kopf. Mein Baby soll nicht ohne Oma und Opa aufwachsen, es reicht schon, wenn sie einen Onkel niemals kennen lernen wird. Es wird einfach nicht mehr darüber geredet.