?Anzeige?

Wenn ich sehen würde, wie Jemand einem anderen Menschen wehtut, ihn verletzt, würde ich ihn anzeigen und eine Aussage machen. Ja sogar, wenn ich Zeuge eines Verkehrsunfalls wäre, würde ich eine Aussage machen, warum kann ich es bei mir nicht? Ich soll gegen meinen eigenen Bruder aussagen? Wie soll das gehen?
Lange habe ich überlegt, ob das, was mir passiert ist, überhaupt schlimm genug ist, um angezeigt zu werden. Übertreibe ich nicht etwas? Ist es nicht langsam mal gut, nach so langer Zeit? Dann sagte mir eine Freundin, dass ich von meinem jetzigen Standpunkt ausgehe. Jetzt bin ich 27 Jahre alt, ich wohne alleine und wenn mir die Decke auf den Kopf fällt, fahre ich raus. Ich kann tun und lassen, was ich will. Damals war ich vier und völlig ausgeliefert, gefangen, in meinem eigenen zu Hause. Damals hatte ich große Angst und hatte Niemanden, mit dem ich darüber reden konnte, ich war ohnmächtig. Wenn es damals Jemand raus gefunden hätte, hätte er doch auf jeden Fall Anzeige erstattet, um die kleine Katrin zu retten, oder nicht?
Jetzt bin ich dran die kleine Katrin zu retten oder jedenfalls das, was von ihr übrig blieb. Aber dafür müsste ich meiner Familie weh tun, sie zerstören. Es würde Mama das Herz brechen, wenn ich ihren Sohn anzeigen würde. Was würde es überhaupt noch bringen? Wenn Jemand Steuern hinter zieht wird er härter bestraft, als wenn man(n) ein Kind missbraucht. Außerdem war er damals selber erst 14/15/16, er würde sicher keine Gefängnisstrafe mehr bekommen und eine Geldstrafe? Erstens hat er Privatinsolvenz angemeldet und zweitens, wie viel Geld ist nötig, um ein zerstörtes Leben wieder lebenswert zu machen? Aber mir ginge es gar nicht um eine Strafe. Ich meine, er ist mein Bruder... Aber stell Dir doch einmal vor, dass er von einem Richter schuldig gesprochen werden würde. ER wäre schuld. Nicht ich. Vielleicht könnte ich es dann endlich annehmen? Vielleicht wäre mein Leben dann endlich wieder lebenswerter.
 Aber was muss passieren, damit ich diesen Schritt wagen kann? Meine Aussage habe ich schon aufgeschrieben, der Teil ist allerdings Passwortgeschützt, weil es doch zu sehr ins Detail geht und ich mich doch zu sehr dafür schäme. Manchmal versuche ich diese Aussage vorzulesen, denn ich kann ja keine Aussage machen, ohne zu reden. Aber ich kann diese Dinge nicht aussprechen. Meine  Stimme bleibt einfach stumm. Ich habe es sogar schon versucht, indem ich mir Kopfhörer aufgesetzt und Musik gehört habe. Doch auch da konnte ich manche Dinge einfach nicht aussprechen. Wie soll man denn bloß eine Aussage machen? Und die Zeit läuft davon...

 

4.12.2009

Nun ist es doch passiert. Ich habe eine Aussage gemacht! In der Klinik hatte man mir eine Adresse einer Frau vom Frauennotruf Bielefeld gegeben, weil ich unbedingt wissen wollte, wann es denn jetzt genau verjährt. An meinem 28.Geburtstag (08.12.2009) oder erst später? Kurz vor meinem Geburtstag habe ich mich dann doch endlich getraut, der Frau eine Mail zu schreiben und sie schrieb mir, was ich bereits befürchtete. Es würde am 08.12.2009 verjähren! Was sollte ich jetzt tun? Hin und her gerissen habe ich mich dann erst mal zu einem Beratungsgespräch bei einer Rechtsanwältin entschieden. Erst mal informieren, das heißt ja noch nichts. Die Frau von Frauennotruf hat mich dann auch begleitet, was sehr gut war und die Anwältin war sehr sehr sehr sehr nett und lieb. Und dann ging alles ganz schnell. Die Frau vom Frauennotruf hat mit der Polizei gleich für zwei Tage später einen Termin gemacht, toll, dass das so schnell klappte. Bis dahin hatte ich auch immer geübt meine Aussage vorzulesen. Frei sprechen ging nicht, aber beim Ablesen war es, als würde ich einfach irgendeine Geschichte vorlesen. Naja, fast. 

Bei der Polizei war alles sehr aufregend. Wieder hatte die Frau mich begleitet. Die Polizistin war auch super lieb und wir mussten in einem "Kinderzimmer" sitzen, das war schon irre. Da sind echt Kameras und Mikrofone angebracht. Ich wurde aber nicht gefilmt. Die Polizistin wiederholte alles, was ich sagte und nahm es auf Band auf, damit man meine Stimme nicht hörte. Ein sehr komisches Gefühl, wenn jemand alles wiederholt, was man sagt. Ich konnte dann erst mal alles vorlesen und sie stellte dann noch ein paar Fragen. Die Fragen schwirren mir heute immer noch durch den Kpof. Das hat schon alles viel aufgewühlt. 

Da die Verjährung erst dann gehemmt wird, wenn er von der Anzeige Kenntnis hat, musste alles schnell gehen. Leider weiß ich aber gar nicht, wo er wohnt, doch die Polizistin hat es rausgefunden und ihm wurde das noch rechtzeitig zugestellt. Jetzt heißt es abwarten. Und es kommt mir immer noch alles so oft so unreal vor. Wie ein Film. Ich hab das gar nicht gemacht. Das geht doch gar nicht. Ich kann doch nicht meinen eigenen Bruder anzeigen und meine Familie kaputt machen. Und wie soll ich bitte vor Gericht noch mal gegen ihn aussagen, wenn er auch noch alles hört? Ich habe ganz doll Bauchweh und große Angst 


Februar/März 2010

Ich bekam Nachricht, dass sie ihn vernommen und er gestanden habe. Ich bin dann zur Polizei, wo man mir seine Aussage vorlas. Das war richtig richtig schlimm. Die haben ihm meine Aussage vorgelesen!!!!! Er hat viel mehr gestanden, als ich wusste. Er sagte, dass es schon in Verl begann, ich also höchstens 3 war und es ging, bis er 16 war, ich also 7. Regelmäßig, ca. alle 14 Tage. Ich bin fassungslos. Ich bin nicht einmal in der Lage dazu, mir das überhaupt vorzustellen. Das wusste ich nicht mehr! Ein Bild vor Augen, ich dachte oft, das kann doch gar nicht wahr sein...er hat es gestanden. Er hat das also tatsächlich gemacht. Wie konnte er das tun??? Die Polizistin las mir vor, dass die Vernehmung beendet wurde, weil er so weinte. Trotz allem ist da mein schlechtes Gewissen, mein Schuldgefühl. Verdammt noch mal!!! Bei der Polizei habe ich mir nichts anmerken lassen, aber als ich dann im Auto war bin ich völlig durchgedreht. So kannte ich mich nicht. Völliges Gefühlschaos, Panikattacken, Bilder, Todessehnsucht...Ich bin sogar freiwillig zu meinem Arzt gefahren, weil ich so Angst vor mir selber hatte. 

Nun ist Ende Mai und ich habe noch immer nichts gehört. Nichts.

20.07.2010

Mich rief eine Frau der Polizei Gütersloh an und sagte, die Staatsanwaltschaft habe meine Unterlagen zurückgeschickt und will, dass die mich noch mal befragen. Und auch meine Mutter. Sie sollen mich nach mehr Details und genaueren Zeitpunkten befragen. Denken die, ich stehe den ganzen Stress einer Aussage durch und sage dann nur die Hälfte??? Und was wollen die von meiner Mutter? Ich will nicht, dass die sie befragen und ihr weh tun. Die sollen sie in Ruhe lassen! Sie würde das nicht verkraften und dann bin ich schuld. 

Leider ist die Frau vom Frauennotruf ausgerechnet jetzt in Urlaub, aber eine Vertretung wäre mit mir zur Polizei gegangen, weil ich nicht warten will. Ich "will" das jetzt hinter mich bringen, denn ich halte das nicht aus. Mein Bauch platzt, mein Herz rast, mein Kopf dreht durch. Aber leider kann die Polizistin immer dann nicht, wenn die Frau vom Notruf kann. Jetzt muss ich erst mal noch 2 Wochen warten, bis meine zuständige Frau vom Notruf zurück ist und nen Termin macht. Und dann muss ich auch noch zu der Polizistin nach Gütersloh und nicht zu der, wo ich beim ersten mal war, weil diese keine Zeit hat und eigentlich ja auch nicht für mich zuständig ist. Wegen dem Tatortprinzip. Aber ich hatte halt gehofft, dass ich nicht zu einer fremden Frau muss. Aber ich muss

Und eigentlich habe ich Urlaub und der Sohn meines Freundes ist drei Wochen da. Ich hatte mich so sehr auf eine schöne Zeit und viel Spaß gefreut und jetzt? Grübeln, Todessehnsucht, Angst, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Bauchweh, totale Erschöpfung und der tiefe Wunsch nach Schneiden. 

04.08.2010

Ich bin allein zur Polizei gegangen. Leider war die Frau vom Frauennotruf nach ihrem Urlaub krank und ich konnte nicht mehr länger warten. Es hat mich einfach total aufgefressen und verrückt gemacht. Also bin ich allein hin. Die Polizistin war wirklich sehr nett, dass sie so nachfragen musste...da kann sie ja auch nichts für. Ich sollte halt noch genauere Zeitangaben machen...hallo....das ist 24Jahre her, ich meine, da kann ich mich echt nicht mehr an genaue Zeitpunkte erinnern. Tut mir leid. Ich konnte also eigentlich nicht wirklich was neues sagen, im Gegenteil, manches konnte ich gar nicht sagen. Und ich konnte auch nicht verhindern, dass sie meine Mutter vorladen werden. Die Vorstellung, wie sie morgens die Post öffnet und weint und verzweifelt ist und überfordert und vielleicht nicht mehr leben will und ich schuld daran bin....................... Das wollte ich nicht! Und niemand versteht das. Die haben ihr meine Aussage vorgelesen!!! 

 

27.05.2011 

So, noch einmal zur Info, ich habe am 04.12.2009 die Anzeige gestellt und bis heute NICHTS gehört. Fünf mal haben wir nun schon seit Oktober 2010 bei der Staatsanwältin angerufen und jedes mal wurden wir vertröstet: " in 4 Wochen bekommen sie Bescheid...Ende des Jahres bekommen sie Bescheid...in vier Wochen bekommen sie Bescheid...Ende Februar bekommen sie Bescheid...ich versuche es bis Ende Mai. Tja und das "allerschlimmste" ist, dass ich im April geheiratet habe und mir nichts mehr gewünscht hatte, als eine Hochzeit in Frieden, einen Neuanfang. Die Staatsanwältin wusste das, war es echt zu viel verlangt, das alles bis April abzuschließen? Ja. Denn die Staatsanwältin weiß auch, dass ich im August ein Baby erwarte und meine größte Angst, dass sie in eine schlimme Welt, in eine schlimme Situation hinein geboren wird, wird sich bestätigen, denn die Staatsanwältin hat vor 2 Wochen gesagt, dass das Verfahren auf keinen Fall bis August abgeschlossen sein wird. Ich wünsche mir so sehr, dass die kleine einen guten Start hat, dass ich 100% für sie da sein kann. 1000%. Ich habe mich erkundigt und wollte die Anzeige zurück nehmen, aber das geht nicht mehr, weil er auch gestanden hat. Ich möchte einfach nur in Ruhe und Frieden mein neues Leben leben und nicht zwischen zwei Stillpausen zum Gericht fahren. ICH WERDE NICHT AUSSAGEN und wenn die sich auf den Kopf stellen. Ich möchte nicht mehr daran erinnert werden. Nie mehr. Ich möchte mich auf mein Baby freuen, jeden Tag voll und ganz und nicht so wie jetzt jeden Tag daran denken, ob ich endlich Post bekommen habe. Das kann doch so nicht weiter gehen. 

Vielleicht ist es ok so?! Ich  habe mein Glück gefunden. Ich habe geheiratet und spüre Leben in mir. In mir wächst ein Baby, unfassbar. Und sie ist ganz schön wild und jeder Tritt zeigt mir, dass sie das Wichtigste in meinem Leben ist. Ich weiß, es ist meine letzte Chance etwas zu bewirken, da es ja mittlerweile verjährt ist. Aber ist es das wert???? 

 

 

April 2012

Ich habe nicht ausgesagt. Er wurde vorgeladen und vom Amtsgericht Gütersloh zu einer Schadenswiedergutmachung von 1500€ verurteilt , was ist das überhaupt für ein Wort? "Schadenswiedergutmachung"?! Was bitte soll mit 1500€ gut gemacht werden? Das sind noch nicht einmal die Einbußen, die ich durch meine langen Krankengeldzahlungen hatte. Schadenswiedergutmachung. Ich könnte kotzen! Und das aller beste ist, er darf die Summe in 75€ Raten abzahlen, damit er keinen wirtschaftlichen Schaden erleidet. Ich könnte echt so was von platzen. Ich habe dann den Richter angeschrieben und gefragt, ob sie das Geld annehmen und mir weiterleiten, damit ich nicht jeden Monat seinen Namen auf meinem Kontoauszug lesen muss. Nein. Er überweißt mir das Geld. Jeden Monat. Was für eine verdrehte Welt, echt. Durch das "Urteil" gilt er noch nicht einmal als vorbestraft. Es steht nichts in seiner Akte!!!!!!!!!!!!!! Ich kann das immer noch nicht fassen. Und jedes Mal, wenn ich im Fernsehen oder so mitbekomme, wie jemand wegen Steuerhinterziehung oder Diebstahl oder so härter verurteilt wird, bin ich wieder total aufgewühlt. Tja, das ist also das Ergebnis der jahrelangen Anzeigentortur. 

 

 

 

Wenn Ihr mögt würde ich mich sehr freuen, wenn Ihr mir Eure Erfahrungen mit einer Anzeige schreibt. Was hat Euch die Kraft gegeben? Wie ist es ausgegangen?